Seit Anfang des Schuljahres beschäftigen sich die PoWi-Kurse des 13. Schuljahres mit der Außen- und Sicherheitspolitik sowohl auf deutscher als auch auf internationaler Ebene. Im Fokus dieser Unterrichtseinheit stand unter anderem der Afghanistan-Krieg, weshalb zu diesem interessanten und umstrittenen Thema eine Podiumsdiskussion für den 7.12.10 organisiert wurde. Von den geladenen Gästen erschienen ein Vertreter der CDU, einer der Linken und einer des BKAs zu dem von Anja Krzepek (13a) und Jonas Bär (13e) moderierten Podium.
Zu Beginn der Podiumsdiskussion berichtet Dirk Franzen vom BKA von seinen einjährigen Einsatz in Afghanistan, während dem er noch relativ zu Beginn des internationalen Engagements als Personenschützer und Polizeiausbilder arbeitete. Er betont deutlich, dass er sich in Afghanistan entgegen der Erwartungen vieler Einheimischer in zivil bewegte, wodurch er einen viel stärkeren Draht zur dortigen Bevölkerung aufbauen konnte. Dieses gute Verhältnis führte sogar dazu, in der Teestube vor etwaigen Anschlagsregionen und unsicheren Gebieten der nächsten Tage gewarnt zu werden. Er stellt fest: „Seit sich die internationalen Organisationen dort festgesetzt haben, sind die Preise stark gestiegen, auch für die Einheimischen“, wodurch die starke Zerstörung der Städte aus Krisen und Konflikten der letzten 40 Jahre keinesfalls behoben werden könne. Zu der Zerstörung der der Städte trügen das schmutzige Wasser und fehlende Schulen zu einem schlechten Lebensstandard der Bevölkerung bei, weshalb die Bundeswehr währende seinem Aufenthalt dort viele Brunnen installierte und die UN einige Schulen in Zelten aufbaute, um die Grundversorgung zu sichern. Gegen Ende dieses Berichtes zeigt Franzen den Schülern ein Bild von der Grenzregion zu Pakistan, die als Versteck der Taliban gilt. Beim Betrachten dieser Bilder wird deutlich, dass „wer sich hier versteckt und nicht gefunden werden will, nicht gefunden wird“.
Generell entsteht bei den Schülern durch seinen Vortrag ein recht positives Bild von der afghanischen Bevölkerung und ihrer Mentalität, auch wenn diese aufgrund der Einstellung „Allah wird es schon richten“ durchaus Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit hervorrufe.
Franzen schlägt auch durchaus kritische Töne an. So kritisiert er beispielsweise die schlechte Koordination des Einsatzes zwischen den einzelnen Bündnispartnern: „Wenn Deutschland für die Polizei zuständig ist und Italien für das Justizministerium, beide Staaten aber unterschiedliche Wege gehen, kann das nicht funktionieren“.
Willi van Ooyen, Fraktionsvorsitzender der Linken im hessischen Landtag und erklärter Pazifist ist die Schilderung Franzens jedoch „zu idyllisch“. Er betrachtet das Engagement in Afghanistan vor allem als Krieg. Seiner Ansicht nach ist der Bundeswehr-Einsatz nicht humanitär motiviert, sondern Ausdruck des westlichen Strebens nach Durchsetzung der eigenen Interessen wie Macht und Ressourcen. Die Tatsache, dass die Bundeswehr an fast allen Kriegen der Welt beteiligt sei, ist für ihn ein deutliches Zeichen. Van Ooyen spricht sich klar für den sofortigen Abzug deutscher Soldaten aus Afghanistan aus.
Günter Schork, Landtagsabgeordneter der CDU, ist da ganz anderer Meinung: Deutschland habe kein wirtschaftliches Interesse an Afghanistan. Im Vordergrund stünde vielmehr die Beseitigung der Taliban, die einen Krieg gegen ihr eigenes Volk führten und vor allem Frauen und Mädchen unterdrückten. Für ihn ist Afghanistan ein „Rückzugsgebiet des internationalen Terrorismus“. Ein sofortiger Rückzug aus Afghanistan ist für ihn nicht denkbar, da man schon in Somalia gesehen habe, dass danach Bürgerkrieg ausbreche und der Terrorismus staatliche Strukturen zunichte mache. Um diesem Szenario in Afghanistan vorzubeugen, sei es wichtig, die einheimischen Sicherheitskräfte wie Polizei und Militär zu stärken. Weiterhin sei ein militärischer Schutz der NGOs unbedingt erforderlich, um deren Arbeit bestmöglich zu schützen und die Sicherheit der Entwicklungshelfer zu gewährleisten.
Auch Franzen ist der Meinung, dass es nicht vertretbar sei, sofort aus Afghanistan „raus zu gehen“, da man mit der Entscheidung für den Einsatz eine Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung übernommen habe. Allerdings fordert er eine bessere Koordination der Handlungen und eine besserer Verteilung der Gelder, um das neu gesteckte Ziel für den Abzug, 2014, realisieren zu können. Seine Aussage: „Jeden Morgen fliegen mehrere Militärmaschinen vom Flughafen Leipzig nach Afghanistan, denn jedes Brötchen und jedes Ei wird aus Deutschland eingeflogen“, macht deutlich, dass das für Afghanistan verwendete Geld deutlich besser angelegt wäre, würde man die Soldaten durch einheimische Produkte versorgen und dadurch gleichzeitig die afghanische Wirtschaft und das Vertrauen der Bevölkerung in das internationale Militär stärken.
Ooyen hält dagegen: Durch die Anwendung militärischer Gewalt wachse der Hass und die Anzahl der Kämpfe nehme zu, weshalb Afghanistan nur zivil geholfen werden sollte. Er sieht die Zukunft in Afghanistan in den Mujaheddin, den Stammesfürsten, da er überzeugt ist, dass man Deutschland und Afghanistan nicht vergleichen könne und deshalb eine eigenständige Entwicklung der Demokratie in Afghanistan möglich sein müsse. Der wahre Grund für das deutsche Engagement sei nicht der staatliche und zivile Aufbau, den man auch in anderen Krisenregionen der Welt unterstützen könne, sondern einzig und allein die Ressourcen, die mithilfe des Militärs verteidigt würden. Das Militär sollte deshalb sofort abgezogen werden, um die humanitären Hilfsprojekte nicht zu gefährden.
Benedikt Sager fragt Ooyen nach seinem Gegenentwurf zu Beseitigung der Taliban ohne militärische Mittel. Ooyens Antwort, er wäre gar nicht auf die Idee gekommen, in Afghanistan „irgendwas zu beseitigen“, da die Taliban nur ein Teil des dortigen Widerstandes sei und die Einberufung der Loya Dschirga wesentlich lohnender als die Anwendung militärischer Gewalt gewesen wäre, kann die Schüler aber nicht vollkommen überzeugen.
Für Ooyen ist der Krieg bloße Fortsetzung der Politik mit aggressiven Mitteln, durch das Eingreifen der westlichen Bündnispartner werde ein Abzug „jetzt viel komplizierter, als wenn wir gar nicht rein gegangen wären“.
Im Anschluss an die Eingangsstatements und die Diskussion der drei Experten folgt eine Fragerunde der Schüler, die sich wieder in Diskussion vor allem der zwei Politiker entspannt.
So fragt Burak Gürbüz beispielsweise, ob sich Deutschland durch die aktive Terrorismusbekämpfung nicht selber zur Zielscheibe desselbigen mache. Für Franzen ist es bloß eine Frage der Zeit bis auch in Deutschland terroristische Handlungen verübt werden, denn bei seinen Aufenthalten in Afghanistan merke er immer wieder, dass sich die Einstellung gegenüber den Deutschen und den anderen Bündnispartnern gegenüber dem Beginn des Engagements verschlechtert habe. Schork dagegen ist der Meinung, dass Deutschland auch schon vor 2001 auf dem Radar der Terroristen gewesen sei. Konkrete Beispiele kann er allerdings nicht nennen und seine Erklärung, der 11. September sei von Hamburg aus geplant worden, enttäuscht. Auch van Ooyen macht diese Erklärung stutzig. Seine Argument, man könne nicht Afghanistan für den Terrorismus verantwortlich machen, das nur durch das Zitieren von Marx: „Die Religion ist das Opium des Volkes“ gestützt wird, kann allerdings auch nicht zur Beantwortung der Frage dienen.
Der Moderator Jonas Bär fragt daraufhin, ob denn eine erhöhte Terrorgefahr für Deutschland in Kauf genommen werden müsse. Schork: „Ja!“.
Die Frage nach der Verpflichtung gegenüber Deutschland und seinen Bürgern kommt auf. Christopher Voigtmann fragt, ob es nicht wichtiger für Deutschland sein sollte, seine eigenen Bürger vor dem Terror zu schützen als Afghanistan von der Taliban zu befreien.
Franzen sieht die Verantwortlichkeit vor Afghanistan als genauso groß an als die gegenüber Deutschland, da man vor 9 Jahren eben beschlossen habe, dort einzugreifen. Es sei feige, nun aus Angst vor den etwaigen Konsequenzen zu gehen und die Bevölkerung im Stich zu lassen. Man dürfe die restlichen 40% der Afghanen, die sich noch etwas von der internationalen Staatengemeinschaft erhoffen, nicht verprellen und stattdessen größere Effizienz durch bessere Koordination schaffen. Ein allgemeines Oberkommando sei eine Möglichkeit, bejaht er auf Nachfrage. Allerdings sei aufgrund der finanziellen Belastung keiner der Bündnispartner -selbst die USA nicht- bereit, dieses zu übernehmen. Deshalb erscheint ihm ein kompetenter Generalstab, der sich paritätisch zusammensetzt als die beste Maßnahme zur Lösung der Koordinationsprobleme. Da die Warlords immer noch das Sagen hätten sei es wichtig, diese in Verantwortung zu bringen und den Polizeiabsolventen mehr Geld zu bezahlen: „30 Euro im Monat reichen nicht, wenn ein Warlord das gleiche am Tag zahlt“. Er habe es oft erlebt, das Absolventen der Polizeischule schon kurz nach dem Abschluss desertierten und zu den Warlords überliefen.
Nils Brunschede nutzt dieses Eingeständnis zu der Frage, ob es noch überhaupt einen Sinn habe, die militärischen Kräfte zu halten , da ja offensichtlich das Vertrauen in das Militär und seine Maßnahmen verspielt wurde. Aber auf diese Frage liefern die Politiker ebenso wie auf die folgenden Schülerbemerkungen keine neuen Antworten mehr, sondern reagieren in zunehmender Weise mit den Einstellungen und Floskeln, die ihnen von ihrer Partei vorgegeben sind. Zu einer Entwicklung von Lösungsansätzen und Kompromissen kommt es nicht.
Lediglich Franzen kann die an ihn gerichteten Fragen angemessen beantworten. So erklärt er beispielsweise, dass die afghanische Bevölkerung in den Städten sich längst an die Soldaten gewöhnt habe und diese zunehmende als Besatzer wahrnehme, da die Soldaten nur einen sehr oberflächlichen Kontakt zu den Einheimischen herstellen. Er macht erneut deutlich, dass seiner Meinung nach der zivile Aufbau mithilfe der Bevölkerung geschehen muss, indem das Militär einen solchen Draht zu den Afghanen aufbaut, wie er es während seiner dortigen Arbeit erreichte.
Es folgen Fragen zur Sinnhaftigkeit der Demokratisierung und der Interessenvertretung im Allgemeinen, zur Arbeit der NGOs in Afghanistan und deren Beeinflussung durch das Militär und zur Leistungsfähigkeit des Militärs angesichts der asymmetrischen Bedrohung durch die Taliban, deren Beantwortung und Diskussion sich zwar lange über das eigentliche Ende der Veranstaltung hinauszögern, trotzdem aber keine neuen Aspekte liefern können, was sowohl von Lehrern als auch Schülern als Enttäuschung wahrgenommen wird, da deutlich auffiel, dass die beiden Politiker wenig bereit waren, über andere Positionen auch nur nachzudenken.
Trotzdem konnte der 13. Jahrgang durch dieses Podium einen anderen Blick auf Afghanistan werfen, als er es aus dem Unterricht kannte. Franzens Bericht war durchaus informativ und kritisch, weshalb gegen Ende die Fragen an Franzen zunahmen, während die an die Politiker weniger wurden. Alles in allem war die Veranstaltung eine gute Möglichkeit für jeden Einzelnen, um ein bisschen näher an die Beantwortung der umstrittenen Frage: „Raus aus Afghanistan?“ zu kommen, obwohl sie selbst keine eindeutige Antwort lieferte.
Vera Rill, 13a